„Differenzierung des chronisch-progredienten Verlaufes der Multiplen Sklerose“
Hinter
der Diagnose „Multiple Sklerose“ verbergen sich ganz verschiedene
Verlaufsformen, wie es auch durch das Schlagwort „ Die Krankheit mit den
1.000 Gesichtern“ zum Ausdruck kommt. Die bekannteste und zu Beginn der
Erkrankung auch häufigste Verlaufsform ist die „schubförmig
remittierend“ verlaufende MS. Die neurologischen Defizite treten hierbei
relativ plötzlich auf und bilden sich zumeist weitgehend zurück. Dieser
Verlaufsform liegen vorwiegend entzündliche Prozesse zu Grunde, die
medikamentös inzwischen mit einem gewissen Erfolg günstig beeinflusst
werden können.
Nach 10-15 Jahren Krankheitsdauer geht
allerdings bei ca. der Hälfte der Patienten der anfangs
schubförmig-remittierende Verlauf der Krankheit in die so genannte
sekundär chronisch progrediente Phase über. Hierbei schreitet die
Behinderung nicht schubförmig, sondern langsam schleichend voran. (Bei
einem kleinen Prozentsatz der MS Betroffenen verläuft die Krankheit von
vornherein chronisch progredient und ohne Schübe; man spricht von
„primär progredienter MS“.)
Dem progredienten Verlauf liegen
weniger entzündliche, sondern eher so genannte degenerative Prozesse zu
Grunde, das heißt, es kommt zu einem schleichenden Untergang von
Nervenzellen. Für diese Verlaufsformen sind die therapeutischen Konzepte
besonders unbefriedigend und wenig erfolgreich. Das liegt vor allem
daran, dass die wesentlichen krankhaften Prozesse, die diese Progredienz
antreiben, bisher nur sehr unvollständig verstanden sind.
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Die Arbeitsgruppe um Prof. Kerschensteiner hat nun damit begonnen, sich
mit dieser progredienten Phase der Multiplen Sklerose zu beschäftigen.
Bekannt ist, dass in dieser Krankheitsphase der MS nicht mehr nur die
weiße Substanz, sondern zunehmend auch die graue Substanz (z.B. die
Hirnrinde) geschädigt wird. Um die krankhaften Prozesse in der Hirnrinde
besser zu verstehen, hat das Team von Prof. Kerschensteiner in
Zusammenarbeit mit Prof. Merkler von der Universität Genf mit Hilfe
einer speziellen Färbetechnik Nervenzellen mit allen ihren Fortsätzen in
der Hirnrinde dargestellt. Diese Untersuchungen zeigten überraschend,
dass es zu einem ausgeprägten Verlust der Synapsen, also der
Kontaktpunkte zwischen einzelnen Nervenzellen, kommt. Dieser
Synapsenverlust zeigt sich in der gesamten Hirnrinde, also auch bei
Nervenzellen, die sich in der ansonsten unauffälligen grauen Substanz
befinden. Diese völlig neuen Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der
Synapsenverlust ein sehr früher und damit ggfls. auch für die
Krankheitsentstehung besonders wichtiger Aspekt der progredienten MS
ist. In nachfolgenden Studien hat Prof. Kerschensteiner ein
experimentelles Modell der cortikalen MS, also der Prozesse in der
Hirnrinde, entwickelt, das es erlaubt, die Mechanismen des
Synapsenverlust besser zu verstehen und neue Therapiestrategien zu
entwickeln, die dies verhindern können.
Publikation:
Jürgens T, Jafari M, Kreutzfeldt M, Bahn E, Brück W, Kerschensteiner M* & Merkler D*.
Reconstruction of single cortical projection neurons reveals primary spine loss in multiple sclerosis.
Brain 139, 39-46 (2016)(*) co-senior author